„Gestern um 18 Uhr dann durfte ich die jüdischen Nachfahren auch in der Mensa des MGs begrüßen und zum koscheren Essen einladen. Die Verbindung zum MG in aller Kürze, warum dieser Besuch auch für uns als Schule so bedeutsam ist:
Beginnend im Jahr 1980 haben sich Schüler*innen unserer Schule in einem gemeinsamen Projekt unter der Begleitung des ehemaligen Vertrauenslehrers Hartmut Peters daran gemacht, die NS-Geschichte der Stadt Jever und des Mariengymnasiums ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, damit diese aufgearbeitet werden konnte. Dies geschah gegen spürbare Widerstände und unter hohem persönlichen Engagement aller Beteiligter. Den bewegenden Höhepunkt stellte 1984 der Besuch 13 jüdischer Menschen in ihrer ehemaligen Heimatstadt Jever dar. Mit dabei waren damals bereits Kinder und Enkel dieser Überlebenden. Völlig zurecht wurde die Projektgruppe für ihr Wirken 1986 mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet.
Leider war das MG bereits vor der Übergabe der Macht an Hitler und die NSDAP eine Brutstätte nationalsozialistischen Gedankenguts: fünf von 13 Lehrern sorgten dafür, dass unsere Schule praktisch die Parteizentrale der NSDAP in Jever war. Der jüdische Schüler Max Biberfeld wurde ganz übel von Lehrern und Mitschülern behandelt, was schließlich dazu führte, dass er Nazideutschland sehr früh verließ. Für diese dunkelsten Jahre der Schulgeschichte schäme ich mich als Schulleiter auch heute noch.
Das gemeinsame Essen und die vielen interessanten Gespräche und Geschichten werde ich so schnell nicht wieder vergessen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit können wir das Leben wieder gemeinsam zelebrieren – ein wahres Geschenk!“
JEVER/WAN Als 1981 eine Projektgruppe aus Schülern des Mariengymnasiums zu Jever ihre Recherchen zur braunen Vergangenheit der Marienstadt mit einer großen Ausstellung in den Räumen der Landessparkasse zu Oldenburg abschloss, kam es zu einer ungeahnten Krönung dieser Arbeit durch eine Fernsehreportage dazu.
ZDF-Regisseur Wolf Lindner drehte den Film „Aufgeblättert: Jever – Schüler erforschen NS-Geschichte ihrer Stadt“, der dann am 28. Juni nachmittags ausgestrahlt wurde. Diesen 29-minütigen Streifen zeigte am Mittwoch der Arbeitskreis Gröschler-Haus in Zusammenarbeit mit dem Verein Kinofreunde Friesland im sehr gut besuchten Zimmertheater des Lokschuppens.
„Der stillschweigende braune Geist hing noch immer wie eine Käseglocke über Jever und die junge Generation lüftete die mit ihrer Arbeit“, zog Hartmut Peters vom Arbeitskreis Gröschlerhaus ein Resümee zum damaligen Projekt. 1978 hatte es den Anstoß durch die Kultusministerkonferenz gegeben, als die zum 40. Jahrestag der sogenannten Reichsprogromnacht vom 9. November 1938, als auch in Jever die Synagoge brannte eine Befassung in den Schulen mit dem Nationalsozialismus anregte.
Manfred Redelfs, damals Schülersprecher und politisch sehr interessiert, erinnerte sich nun an ratlose Gesichter in der Lehrerschaft. Es habe keinerlei Unterrichtsmaterial gegeben und die meisten Lehrer hatten auch keine Ahnung vom Thema. Der Film zeigte nun, wie eine große Zahl von Schülern mit eigenen Recherchen begann und eine eigene Projektgruppe dazu bildete.
Zeitzeugen und Unterstützer wie Oswald Andrae, Ommo Ommen und Dorothea Voigt kamen zu Wort und die Schüler wurden leichter fündig als gedacht, als sie zum Beispiel das Schicksal des Kriegsgegners und Demokraten Georg von der Vring untersuchten. Der Zeichenlehrer des Mariengymnasiums und Verfasser des erfolgreichen Antikriegsromans „Soldat Suhren“ habe sich als politischer Wirrkopf 1928 einfach über Nacht abgesetzt, hieß es in den Annalen des Gymnasiums.
Die für jedermann einsehbaren Lehrerpersonalakten im Staatsarchiv Oldenburg, das die Schüler aufsuchten, bewiesen anderes: von der Vring war verbal und mit nächtlichen Steinwürfen in seine Fenster von dem längst stark braun geprägten Kollegium in die Flucht gedrängt worden. Die NSDAP feierte im Jeverland bereits vor 1933 einen kometenhaften Aufstieg und das schlug sich selbst in Mathematikaufgaben im Abitur von 1934 nieder.
Zur Sprache kaum auch die tragische Figur Fritz Levys, des „letzten Juden Jevers“, dem noch 1981 öffentlich hinterhergerufen wurde: „Verrecken sollst du alte Judensau!“ Das bis zu hundertköpfige „Antifaschistische Bürgerkommitee Jever“ aber ließ sich weder durch manche Anfeindungen wie auch nicht durch die demonstrative offene Gegnerschaft der örtlichen Presse beirren.
Dazu schilderten als damalige Mitstreiter Manfred Redelfs, Iko Andrae und Eckehard Harjes im Podiumsgespräch mit Hartmut Peters von eigenartigen Erfahrungen. Ein echter Glücksgriff aber sei Vertrauenslehrer Peters gewesen, Deutsch und Gemeinschaftskunde – „und immer mit einem VW-Bulli für die Beweglichkeit!“ – der wiederum den Fernsehmehrteiler „Holocaust“ von 1978 als bundesweit sehr hilfreichen Türöffner bezeichnete.
In der anschließenden Diskussion betonte Almut Lappe, Abi-Jahrgang 1968, dass sie neidisch auf die Schüler von 1981 gewesen sei, denn ihre Generation sei noch von den Lehrern des alten Geistes unterrichtet worden, die zur Nazizeit „dabei“ waren. Während Hartmut Peters unter Beifall den großen Fortschritt in der politischen Aufarbeitung seither würdigte, stellte Dr. Anja Belemann-Smit vom MG fest, dass die NS-Zeit heutzutage selbstverständlich in den Lehrplänen sei.
FOTO: a) von links – vom 1981er „Antifaschistischen Bürgerkomitee Jever“ Eckehard Harjes, Iko Andrae, Dr. Manfred Redelfs und Hartmut Peters
b) Iko Andrae, Eckehard Harjes und Schlagzeuger Andreas Bahlmann führen Oswald Andraes Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ für den Besuch jüdischer Nachfahren am 19. April vor
JEVER/WAN Als Schülersprecher war Dr. Manfred Redelfs 1978 quasi der Kopf der umfangreichen Schülergruppe, die die NS-Geschichte nicht nur des Mariengymnasiums aus der allgemeinen Verschwiegenheit der Nachkriegszeitriss. Diese intensive Recherchearbeit habe ihn dann nach dem Abitur in den Journalismus geführt (inzwischen ist er seit Jahren Rechercheleiter bei Greenpeace).
Die Projektgruppe habe schon bald auf freiwilliger Basis und unabhängig vom MG weitergemacht. Geburtsstunde aber war der Kultusministererlass von 1978, doch die Schüler wollten mehr als sich nur einen Tag und entsprechend oberflächlich damit beschäftigen. „Das war von der Presse nicht gern gesehen“, drückt Redelfs es höflich aus und meint das „Jeversche Wochenblatt“, das seinerzeit bekanntlich eine aus heutiger Sicht nicht eben rühmliche Rolle spielte.
Doch auch sonst habe es breite Kreise gegeben, die meinten, dass derartige öffentliche Ausstellungen zur überdurchschnittlich braunen Vergangenheit des Jeverlandes wie als krönender Abschluss im zentralen Gebäude der LzO nur Schaden für das Ansehen der Stadt verursachen würden. Die 110 Schautafeln von damals existieren im Übrigen noch und können auf der Homepage des Gröschlerhauses eingesehen werden.